wieder fahren: bodo kirchhoffs „widerfarnis“

toskana 2019

wieder fahren

reiter fährt wieder. mit einer hand lenkend, die andere am schaltknüppel, fährt er in die nacht, neben sich die palm, ein name wie aus einem groschenroman, außerdem gibt es viele zigaretten und ein bisschen geld. reiter fährt so, wie er früher mit seiner freundin durch italien gefahren ist, unverdautes stößt ihm dabei auf und während er wegfährt von dem, was hinter ihm liegt, steuert er rastlos auf eine liebe zu, auf die er nicht vorbereitet ist. bodo kirchhoff schickt seinen protagonisten aus „widerfahrnis“ als aufgegebenen verleger in ein letztes abenteuer, lässt ihn ein letztes mal nähe und liebe erleben, und ein letztes mal scheitern: in der hoffnung, den sehnsüchten und der sprache, die er für all das nicht mehr findet.

nicht-orte der sehnsucht

so fahren der verleger reiter, der seinen verlag aufgegeben hat, weil die leute nicht mehr erzählen, „weggeschmolzen von der abwärme des banalen“, und die dilettantische autorin und selbstbewältigerin leonie palm, die ihren hutladen aufgegeben hat, weil die leute keine hutgesichter mehr haben, in den sonnenaufgang norditaliens. daraus wird eine roadshow durch ein land, das als sehnsuchtsort ebenfalls längst ausgedient hat. reiter und palm, diese beiden menschen, die alles in ihrem leben haben fahren lassen, fahren über autobahnen und industriebrachen, über brücken, „darunter eine art niemandsland“, machen auf supermarkt-parkplätzen rast, kommen der küste einfach nicht näher, dem meer und dem sonnenaufgang. wo es schön wird, sind die orte überfüllt von asiatischen touristen, überall tauchen flüchtlinge auf, aus afrika, osteuropa, fremde, deren hoffnungen reiter und der palm so fremd sind wie ihre eigene zukunft.

in diesem land der nicht-orte also, in dem auto, auf den parkplätzen, im hotelzimmer, widerfährt ihnen die liebe. aber leben, das so viel mitbringt und doch so viel verloren hat, lässt sich nicht nur beim besten willen ändern. so absurd reiters verhalten am ende für uns lesende erscheinen mag, so wenig hätten wir selbst für ihn einen ausweg erfinden können. die konsequenz, mit der kirchhoff seinen protagonisten ausstattet, muss ihn scheitern lassen.

denn was er reiter von anfang an nimmt, ist die perspektive auf eine ein neues leben eröffnende sprache. obschon reiter seine verlegerprofession an den haken hängte, kann er nicht aus seiner haut – darauf geeicht, gegen floskeln und flaches zu wettern, merkt er doch, dass diese neue welt, die mit der palm in diesem nicht-land aufblitzt, eine neue sprache bräuchte.

buch im buch

kirchhoffs reflexionen über erzählen und wirklichkeit, über buch und realität, was er selbst in  „widerfahrnis“ zwischen zwei buchdeckel spannt, eröffnet uns einen doppelten und dreifachen boden. über reiters beobachtung von leonie palm heißt es: „mannomann, sagte er, eins der wörter, die er jeder und jedem gestrichten hätte, nur gesagt war gesagt, auch wenn es in lachendes verlegenheitsatmen überging.“ Aussparen will er „legowörter“, will pünktchen am ende der sätze vermeiden, statt dessen einen punkt setzen. Aber was er als verleger noch schaffte, als mensch reicht es nicht mehr. da wird das leben hinterm steuer bald „besser als seine Worte“. überhaupt drängen sich immer wieder beschreibungen in seine erzählung, die der verleger reiter anderen früher gestrichen, unterkringelt und um die ohren gehauen hätte. und jetzt, auf dieser reise, findet er nichts anderes um das zu beschreiben, was ihm widerfährt, als floskel, belangloses, eben als jenes banale, dessen wegen er seinen verlag aufgab.

 

schreiben vs. leben?

es ist also nicht nur die widerfahrnis der liebe, die uns kirchhoff vorführt, sondern auch eine widerfahrnis nicht-literarischer sprache, die ein leben mit intellektuellem rotstift hin zur auseinandersetzung mit „nullworten“ weitet, die ihm entgegenwehen. aber mit dem verfall von reiters eigener sprache, wenn er „lass es dir schmecken“ sagt, oder ihm ein „ploppender laut“ begegnet, widerfährt reiter doch etwas, was man leben nennen könnte.

es scheint, als blitzen bodo kirchhoffs erfahrungen als schreib-lehrender und autor durch, etwa, wenn er davon erzählt, dass kein erzähler gleich den fuß in einer geschichte habe, sondern sich erst nach und nach hineinschreibe und erst, „wenn aber alles erzählt ist und man noch einmal von vorn anfängt, kann man freilich so tun, als hätte man gleich den fuß darin gehabt, schon beim ersten satz.“ aber das – so schreibt kirchoff/reiter – ist ein mogeln und „verwischt das werden, das sich aus zufällen am wegrand des erzählens ergibt, ganz nach dem vorbild des lebens.“

da scheint in „widerfarnis“ also diese erkenntnis zu stecken: den zufall des erzählens nicht der intellektuellen formsprache zu unterwerfen, das leben selbst in die erzählung und seine sprache hereinzulassen. damit wird „widerfarnis“ zu einem lehrstück für angehende autoren. die grenzen des lebens zur fiktion, die grenze der fiktion zum leben geschieht über wörter, über sprache selbst nur begrenzt. leben ist und bleibt doch mehr als ein buch. was wir aus diesem buch lernen können.

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